Kapitel 1
„Ich biete mich als Date für die Hochzeit an.“
Nicht mal in meinen wildesten Träumen– und glaubt mir, ich habe eine tolle Fantasie– hätte ich damit gerechnet, diese Worte von dieser tiefen, vollen Stimme zu hören.
Ich senkte den Blick auf meine Kaffeetasse und kniff die Augen zusammen, um nachzuschauen, ob darin vielleicht bewusstseinsverändernde Substanzen schwammen. Das hätte zumindest erklärt, was hier vor sich ging. Aber nope.
Nichts. Nur die Reste meines Americano.
„Ich werde es machen, wenn du so dringend jemanden brauchst“, erklang erneut diese tiefe Stimme.
Ich riss die Augen auf. Hob den Kopf. Öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu.
„Rosie…“, flüsterte ich. „Ist er wirklich da? Kannst du ihn sehen? Oder hat jemand mir ohne mein Wissen etwas in den Kaffee gemischt?“
Rosie– meine beste Freundin und Kollegin bei InTech, der in New York ansässigen, technischen Beratungsagentur, in der wir uns kennengelernt hatten– nickte langsam. Ich beobachtete, wie ihre dunklen Locken wippten, ein ungläubiger Ausdruck auf ihrem sonst so freundlichen Gesicht. Sie senkte die Stimme. „Nope. Er steht hier.“ Sie spähte kurz um mich herum. „Hi. Guten Morgen!“, sagte sie fröhlich, bevor sie meinen Blick wieder auffing. „Direkt hinter dir.“
Mit offenem Mund starrte ich meine Freundin an. Wir standen am Ende des Flurs im elften Stock der InTech-Zentrale. Unsere Büros lagen nah beieinander, also hatte ich in dem Moment, in dem ich das Gebäude im Herzen Manhattans in der Nähe des Central Parks betreten hatte, ihr Büro aufgesucht.
Eigentlich hatte ich vorgehabt, mir Rosie zu schnappen und es mir mit ihr auf den gepolsterten Holzsesseln im Flur gemütlich zu machen. Die Sitzecke war als Wartebereich für Klienten gedacht, aber gewöhnlich war sie so früh am Morgen nicht in Gebrauch. Doch wir hatten sie nie erreicht. Irgendwie hatte ich die Bombe schon platzen lassen, bevor wir uns setzen konnten. So dringend musste ich Rosie von meinem aktuellen Dilemma berichten. Und dann… dann war wie aus dem Nichts er erschienen.
„Soll ich mein Angebot noch ein drittes Mal wiederholen?“ Seine Frage jagte einen weiteren Stich des Unglaubens durch meinen Körper und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
Das würde er nicht tun. Nicht, weil er es grundsätzlich nicht konnte, sondern weil seine Worte einfach keinen verdammten Sinn ergaben. Nicht in unserer Welt. Einer Welt, in der…
„In Ordnung. Dann bitte“, seufzte er. „Du kannst mich mitnehmen.“ Er hielt inne, und mir wurde erneut kalt. „Zur Hochzeit deiner Schwester.“
Ich wurde ganz steif. Meine Schultern verkrampften sich.
Das spürte ich, weil die Satinbluse, die ich in meine beige Stoffhose gesteckt hatte, plötzlich spannte.
Ich kann ihn mitnehmen.
Zur Hochzeit meiner Schwester. Als mein… Date?
Ich blinzelte, während seine Worte in meinem Kopf widerhallten.
Dann zerbrach irgendetwas in mir. Die Absurdität dieser seltsamen Situation– offensichtlich versuchte dieser Mann, dem ich nicht vertraute, mir einen fiesen Streich zu spielen– sorgte dafür, dass ein Lachen in meiner Kehle aufstieg und über meine Lippen kam, schnell und laut. Fast, als hätte meine Erheiterung es eilig gehabt.
Hinter mir erklang ein Brummen. „Was ist daran so witzig?“ Seine Stimme wurde kälter. „Ich meine das vollkommen ernst.“
Ich unterdrückte eine weitere Lachsalve. Das glaubte ich ihm einfach nicht. Keine Sekunde lang. „Die Chancen, dass er“, erklärte ich Rosie, „es tatsächlich ernst meint, sind ungefähr so groß, wie dass Chris Evans aus dem Nichts erscheint und mir seine unsterbliche Liebe erklärt.“ Theatralisch sah ich nach rechts und links. „Aber er ist nicht hier. Also, Rosie, du hast gerade irgendetwas von… Mr Frenkel erzählt, richtig?“
Es gab keinen Mr Frenkel.
„Lina“, meinte Rosie mit dem breiten, gekünstelten Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sie nicht unhöflich sein wollte. „Er wirkt, als meinte er es ernst“, verkündete sie, immer noch mit diesem unheimlichen Strahlen. Sie musterte den Mann hinter mir. „Jep. Ich glaube, er könnte es ernst meinen.“
„Nope. Kann nicht sein.“ Ich schüttelte den Kopf und weigerte mich weiterhin, mich umzudrehen, und so anzuerkennen, dass meine Freundin vielleicht recht hatte.
Das konnte einfach nicht sein. Auf keinen Fall würde Aaron Blackford, Kollege und meine ständige Heimsuchung, so etwas anbieten. Nie. Mals.
Hinter mir erklang ein ungeduldiges Seufzen. „Das wird langsam langweilig, Catalina.“ Ein langer Moment der Stille. Dann ein weiteres, lautes Seufzen, diesmal länger. Aber ich drehte mich nicht um. Ich ließ mich nicht unterkriegen. „Mich zu ignorieren, lässt mich nicht verschwinden. Das weißt du.“
Das wusste ich in der Tat. „Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich es nicht weiter versuchen kann“, murmelte ich leise.
Rosie nagelte mich mit einem Blick fest. Dann spähte sie erneut um mich herum, immer noch breit grinsend. „Tut mir leid, Aaron. Wir ignorieren dich nicht.“ Sie lächelte angestrengt. „Wir… diskutieren gerade etwas.“
„Wir ignorieren ihn absolut. Du musst keine Rücksicht auf seine Gefühle nehmen. Er hat keine.“
„Danke, Rosie“, sagte Aaron zu meiner Freundin und klang nicht mehr so kühl wie sonst oft. Nicht, dass er je zu irgendwem nett wäre. Nettigkeit gehörte nicht zu Aarons Verhaltensrepertoire. Ich war mir nicht mal sicher, ob er freundlich sein konnte. Aber wenn es um Rosie ging, war er immer schon ein bisschen weniger… grimmig gewesen. Er zeigte ihr gegenüber eine Höflichkeit, die er mir gegenüber nie an den Tag gelegt hatte. „Glaubst du, du könntest Catalina sagen, sie möge sich umdrehen? Ich wüsste es wirklich zu schätzen, von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu sprechen statt mit ihrem Hinterkopf.“ Sein Tonfall wurde eisig. „Natürlich nur, wenn das nicht eines ihrer Späßchen ist, die ich scheinbar nie verstehe und schon gar nicht witzig finde.“
Hitze stieg in meinem Körper auf und drängte bis in meine Wangen.
„Sicher“, stimmte Rosie zu. „Ich glaube… das müsste ich schaffen.“ Ihr Blick huschte von einer Stelle hinter mir zu meinem Gesicht, dann zog sie die Augenbrauen hoch. „Lina, also, ähm, Aaron bittet dich, dich umzudrehen, falls das nicht eines deiner Späßchen…“
„Danke, Rosie. Ich habe es mitbekommen“, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Meine Wangen brannten. Ich verweigerte kategorisch, mich umzudrehen. Dann hätte er gewonnen– was auch immer für ein Spiel er spielen mochte. Außerdem hatte er mich gerade „schon gar nicht witzig“ genannt. Ausgerechnet er. „Sei doch so nett, und sag Aaron, dass ich nicht glaube, dass man über Scherze lachen oder sie auch nur verstehen kann, wenn einem jeder Sinn für Humor abgeht. Das wäre toll. Danke.“
Rosie kratzte sich am Kopf und warf mir einen flehenden Blick zu. Zwing mich nicht dazu, schienen ihre Augen zu sagen.
Ich riss die Augen weiter auf, womit ich ihr Flehen ignorierte und sie meinerseits anbettelte, mitzuspielen.
Sie stieß den Atem aus, dann sah sie ein weiteres Mal hinter mich. „Aaron“, sagte sie, und ihr gezwungenes Grinsen wurde noch breiter. „Lina denkt, dass…“
„Ich habe sie gehört, Rosie. Vielen Dank.“
Ich war so auf ihn konzentriert– auf die Situation–, dass ich sofort die leichte Veränderung in seinem Tonfall bemerkte– zu der Stimme, die er nur bei mir verwendete. Genauso kalt und trocken wie immer, aber mit einer zusätzlichen Schicht Missachtung und Distanz. Die Stimme, die meistens mit einer finsteren Miene einherging. Ich musste mich nicht mal umdrehen und ihn ansehen, um das zu wissen. Diese Miene zeigte er scheinbar immer, wenn es um mich ging und diese… Sache zwischen uns.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Worte Catalina dort unten durchaus erreichen, aber wenn du ihr ausrichten könntest, dass ich zu arbeiten habe und keine weitere Zeit auf dieses Theater verschwenden kann, wäre das sehr freundlich.“
Da unten? Dämlich riesiger Mann.
Meine Körpergröße war durchschnittlich. Durchschnittlich für eine Spanierin, aber trotzdem durchschnittlich. Ich war einen Meter sechzig groß– sogar ein bisschen größer, vielen Dank auch.
Rosie richtete ihre grünen Augen wieder auf mich. „Also, Aaron muss arbeiten und wüsste zu schätzen…“
„Wenn…“ Ich brach ab, als ich hörte, wie quietschig meine Stimme klang. Nach einem Räuspern versuchte ich es erneut. „Wenn er so viel zu tun hat, richte ihm doch bitte aus, dass er mich verschonen soll. Er kann in sein Büro zurückgehen und jegliche Workaholic-Aktivitäten wiederaufnehmen, die er zu meinem großen Entsetzen unterbrochen hat, um seine Nase in Angelegenheiten zu stecken, die ihn nichts angehen.“
Ich beobachtete, wie meine Freundin den Mund öffnete, doch der Mann hinter mir sprach, bevor auch nur ein Geräusch über ihre Lippen dringen konnte: „Also hast du gehört, was ich gesagt habe. Mein Angebot. Gut.“ Ein Moment der Stille. Währenddessen ich mich stumm verfluchte. „Also, wie lautet deine Antwort?“
Rosie wirkte ein weiteres Mal vollkommen entgeistert. Ich hielt den Blick auf sie gerichtet und spürte förmlich, wie das Dunkelbraun meiner Augen aufgrund meiner Verzweiflung in Rot umschlug.
Meine Antwort? Was zur Hölle wollte er hier erreichen? War das eine neue, ausgefeilte Verwirrungstaktik? Wollte er mich in den Wahnsinn treiben?
„Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Ich habe gar nichts gehört“, log ich. „Das kannst du ihm auch sagen.“
Rosie schob sich eine Strähne hinters Ohr. Ihr Blick huschte für einen Moment zu Aaron, bevor sie sich wieder auf mich konzentrierte. „Ich glaube, er bezieht sich auf den Moment, als er dir angeboten hat, als dein Date mit zur Hochzeit deiner Schwester zu fliegen“, erklärte sie leise. „Du weißt schon: kurz nachdem du mir erzählt hast, dass sich die Dinge geändert haben und du jetzt jemanden– ich glaube, du hast irgendjemanden gesagt– brauchst, um mit dir nach Spanien zu der Hochzeit zu reisen, weil du sonst einen langsamen, schmerzvollen Tod erleiden würdest und…“
„Ich habe es kapiert“, stieß ich hervor, und meine Wangen brannten heißer, als mir klar wurde, dass Aaron das alles gehört hatte. „Danke, Rosie. Du kannst dir die Zusammenfassung sparen.“ Sonst würde mich dieser langsame, schmerzvolle Tod gleich jetzt ereilen.
„Ich meine mich zu erinnern, dass du das Wort verzweifelt verwendet hast“, warf Aaron ein.
Jetzt brannten auch noch meine Ohren. Wahrscheinlich leuchteten sie sogar in radioaktivem Rot. „Habe ich nicht“, hauchte ich. „Dieses Wort habe ich nicht verwendet.“
„Das… hast du irgendwie doch getan, Schätzchen“, bestätigte meine beste– nein, meine ehemals beste– Freundin.
Ich kniff die Augen zusammen und formte mit den Lippen: Was zur Hölle, Verräterin?
Aber sie hatten beide recht.
„Schön. Dann habe ich das eben gesagt. Das bedeutet nicht, dass ich wirklich so verzweifelt bin.“
„Das sagen wirklich hilflose Leute immer. Aber natürlich… wenn du damit besser schlafen kannst, Catalina?“
Zum hundertsten Mal heute Morgen verfluchte ich mich innerlich. Ich schloss kurz die Augen. „Nicht, dass es dich etwas anginge, Blackford, aber ich bin nicht hilflos, okay? Und ich schlafe nachts ganz wunderbar. Tatsächlich habe ich noch nie besser geschlafen.“
Was spielte eine Lüge mehr schon für eine Rolle? Im Gegensatz zu dem, was ich gerade behauptet hatte, war ich absolut verzweifelt auf der Suche nach einer Verabredung für diese Hochzeit. Aber das bedeutet nicht, dass ich…
„Sicher.“
Ironischerweise war es von allem, was Aaron Blackford heute Morgen gesagt hatte, ausgerechnet dieses Wort, das mir das Rückgrat brach und es mir unmöglich machte, weiter die Unbeteiligte zu spielen.
Dieses sicher, das so herablassend und gelangweilt und wegwerfend geäußert wurde– typisch Aaron.
Mein Blut begann zu kochen.
Meine Reaktion auf dieses kurze Wort– das, von jemand anderem geäußert, keinerlei Effekt auf mich gehabt hätte– war so impulsiv, so instinktiv, dass mir erst klar wurde, dass ich mich umgedreht hatte, als es schon geschehen war.
Aufgrund seiner unchristlichen Größe hieß mich eine breite Brust willkommen, bedeckt von einem weißen Anzughemd, das so glatt war, dass ich meine Hände darin vergraben und es verknittern wollte. Wer wandelte jeden Tag derart perfekt und wie aus dem Ei gepellt durchs Leben? Aaron Blackford.
Mein Blick glitt über breite Schultern und einen langen Hals nach oben bis zu seinem Kinn. Sein Mund bildete wie erwartet eine schmale Linie. Meine Augen glitten höher, bis sie seine fanden– in einem Blau, das mich an die Tiefen des Ozeans erinnerte, kalt und tödlich– und ich feststellen musste, dass er mich ebenfalls ansah.
Er zog eine Augenbraue hoch. „Sicher?“, zischte ich.
„Ja.“ Dieser Kopf, gekrönt von rabenschwarzem Haar, hob und senkte sich einmal, ohne dass er meinen Blick freigab. „Ich will nicht noch mehr Zeit darauf verschwenden, über etwas zu diskutieren, was du in deiner Sturheit niemals zugeben wirst, also ja. Sicher.“
Dieser enervierende, blauäugige Mann, der wahrscheinlich mehr Zeit damit verbrachte, seine Kleidung zu bügeln, als mit anderen Menschen zu interagieren, würde es nicht schaffen, mich so früh am Morgen aus der Haut fahren zu lassen.
Ich bekämpfte die Reaktionen meine Körpers, indem ich einmal tief durchatmete und mir eine kastanienbraune Locke hinters Ohr schob. „Wenn das hier eine solche Zeitverschwendung ist, verstehe ich ehrlich nicht, warum du noch hier bist. Meinetwegen oder Rosies wegen musst du nicht bleiben.“
Miss Verräterin hinter mir brummte nichtssagend.
„Würde ich nicht“, gab Aaron ruhig zu. „Aber du hast meine Frage immer noch nicht beantwortet.“
„Das war keine Frage“, sagte ich, und aus irgendeinem Grund schmeckten die Worte bitter. „Was auch immer du gesagt hast, es war keine Frage. Aber das ist auch nicht wichtig, weil ich dich nicht brauche, vielen Dank auch.“
„Sicher“, wiederholte er und trieb meine Wut damit noch höher. „Auch wenn ich glaube, dass das nicht stimmt.“
„Dann irrst du dich.“
Diese Augenbraue kletterte noch höher. „Und doch klang es, als würdest du mich dringend brauchen.“
„Dann musst du echte Probleme mit den Ohren haben, weil du dich– offensichtlich– verhört hast. Ich brauche dich nicht, Aaron Blackford.“ Ich schluckte, um meine trockene Kehle zu befeuchten. „Ich kann es dir auch schriftlich geben, wenn du möchtest. Kann dir eine E-Mail schicken, wenn das hilft.“
Er schien eine Sekunde darüber nachzudenken und wirkte dabei nach wie vor vollkommen ungerührt. Aber ich war zu klug, um mir einzubilden, dass er es so einfach gut sein lassen würde. Und er bestätigte meine Vermutung, als er erneut den Mund öffnete. „Hast du nicht gesagt, die Hochzeit würde in einem Monat stattfinden, und du hättest noch keine Begleitung?“
Jetzt wurden meine Lippen schmal. „Vielleicht. Ich kann mich nicht erinnern.“ Natürlich hatte ich das gesagt. In genau diesen Worten.
„Hat Rosie nicht vorgeschlagen, dass vielleicht niemand merken würde, dass du allein an der Hochzeit teilnimmst, wenn du dich nach ganz hinten setzt und dich still verhältst?“
Meine Freundin schob ihren Kopf in mein Blickfeld. „Habe ich. Ich habe auch vorgeschlagen, ein langweiliges Kleid zu tragen und nicht dieses atemberaubende rote…“
„Rosie“, fiel ich ihr ins Wort. „Das ist wirklich nicht sehr hilfreich.“
Aarons Blick blieb unverwandt auf mich gerichtet, als er weiterhin aus der Erinnerung rezitierte. „Und hast du nicht daraufhin Rosie daran erinnert, dass du die verflixte– deine Wortwahl– Trauzeugin bist und dich deswegen ausnahmslos alle Gäste samt Kirchenmäuse– wiederum deine Worte– bemerken würden?“
„Hat sie“, bestätigte Miss Verräterin. Ich riss den Kopf zu ihr herum. „Was?“ Sie zuckte mit den Achseln und unterzeichnete damit ihr Todesurteil. „Hast du, Schätzchen.“
Ich brauchte neue Freunde. So schnell wie möglich.
„Hat sie“, bekräftige Aaron und zog damit meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und hast du nicht erklärt, dass dein Ex-Freund der Trauzeuge ist und du dir allein bei dem Gedanken, in seiner Nähe stehen zu müssen, allein und lahm und jämmerlich solo– ich zitiere hier ein weiteres Mal–, die eigene Haut vom Körper reißen willst?“
Hatte ich. Das hatte ich gesagt. Aber ich hatte nicht gedacht, dass Aaron zuhörte; sonst hätte ich das niemals zugegeben.
Aber anscheinend hatte er direkt hinter mir gestanden. Und jetzt wusste er es. Nicht nur hatte er mein Geständnis gehört, er hatte es mir gerade wieder unter die Nase gerieben. Und sosehr ich mir auch einreden wollte, dass mir das egal war– mir egal sein sollte–, spürte ich trotzdem einen schmerzhaften Stich. Weil ich mich plötzlich noch einsamer, lahmer und jämmerlicher fühlte.
Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an und brach den Blickkontakt. Stattdessen starrte ich seinen Adamsapfel an. Ich wollte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. Was sollte er schon zeigen? Spott? Mitleid? Es war mir egal. Ich konnte gut auf das Wissen verzichten, dass noch jemand mich auf diese Weise betrachtete.
Jetzt schluckte er. Das wusste ich, weil seine Kehle das Einzige war, was ich mir zu sehen erlaubte.
„Du bist verzweifelt.“
Ich stieß heftig den Atem aus. Ein Nicken– mehr gestand ich ihm nicht zu. Und ich verstand nicht mal, wie es dazu gekommen war. Gewöhnlich kämpfte ich, bis ich die erste Wunde schlug. Denn so war es nun einmal zwischen uns. Wir nahmen keine Rücksicht auf die Gefühle des anderen. Also war dies hier nichts Neues.
„Dann nimm mich mit. Ich werde deine Verabredung für die Hochzeit sein, Catalina.“
Mein Blick huschte für einen Moment nach oben, in einer seltsamen Mischung aus Wachsamkeit und Verlegenheit. Dass Aaron alles mitbekommen hatte, war schon schlimm genug, aber dass er auch noch versuchte, es irgendwie zu seinem Vorteil einzusetzen? Mich über den Tisch zu ziehen?
Außer darum ging es tatsächlich nicht. Vielleicht gab es eine Erklärung, einen Grund, warum er das tat. Warum er anbot, mich zur Hochzeit zu begleiten.
Ich musterte seine Miene, während ich alle Möglichkeiten und eventuellen Beweggründe abwog, ohne zu einer glaubwürdigen Schlussfolgerung zu gelangen. Ich fand einfach keine Erklärung, die mir verraten hätte, warum er mir seine Begleitung anbot oder was er damit erreichen wollte.
Die Wahrheit lautete: Wir waren keine Freunde. Das war die Realität. Aaron Blackford und ich konnten uns kaum ertragen. Wir beharkten uns mit bissigen Kommentaren, wiesen auf die Fehler des anderen hin, kritisierten ständig unsere verschiedenen Arbeits-, Denk- und Lebensweisen. Wir verurteilten unsere Unterschiede. In der Vergangenheit hätte ich gerne Dartpfeile auf ein Foto von ihm geworfen. Und ich war mir ziemlich sicher, dass er dasselbe getan hätte… weil ich nicht die Einzige war, die fröhlich auf der Hassallee dahinrollte. Das war keine Einbahnstraße. Und nicht nur das: Aaron war derjenige, der diese Fehde in erster Linie begonnen hatte. Ich hatte nichts damit zu tun. Warum also? Wieso gab er vor, mir helfen zu wollen? Und wieso sollte ich ihm den Gefallen erweisen, auch nur über seine Worte nachzudenken?
„Ich mag verzweifelt auf der Suche nach einer Verabredung sein, aber so verzweifelt bin ich dann doch nicht“, wiederholte ich. „Wie ich schon gesagt habe.“
Sein Seufzen klang gleichzeitig erschöpft und ungeduldig. Und es machte mich wütend. „Ich werde dir Zeit lassen, darüber nachzudenken. Du weißt, dass du keine anderen Möglichkeiten hast.“
„Da gibt es nichts, worüber ich nachdenken müsste.“ Ich ließ meine Hand zwischen uns nach unten sausen. Dann kleisterte ich mir meine Version von Rosies aufgesetztem, breitem Grinsen ins Gesicht. „Bevor ich dich mitnehme, stopfe ich einen Schimpansen in einen Smoking.“
Seine Augenbrauen schossen nach oben, und sein Blick wirkte für einen Moment fast amüsiert. „Ach, komm schon. Wir wissen doch beide, dass du das nicht tun würdest. Auch wenn es dort draußen Schimpansen gäbe, die sich dieser Herausforderung stellen würden… du wirst deinem Ex gegenüberstehen. Deiner Familie. Du meintest, du willst Eindruck hinterlassen. Und mit mir dürfte dir das gelingen.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Ich bin deine beste Option.“
Ich klatschte mit einem Schnauben in die Hände. Selbstgefällige, blauäugige Nervensäge. „Du bist mein bestes Nichts, Blackford. Und ich habe jede Menge andere Optionen“, hielt ich mit einem Achselzucken dagegen. „Ich werde jemanden auf Tinder finden. Vielleicht setze ich auch eine Anzeige in die New York Times. Ich finde schon jemanden.“
„Innerhalb von ein paar Wochen? Sehr unwahrscheinlich.“
„Rosie hat Freunde. Ich werde einen von ihnen mitnehmen.“
So lautete mein Plan. Das war der Grund, warum ich mir Rosie gleich am Morgen geschnappt hatte. Ein Anfängerfehler, wie mir jetzt klar wurde. Ich hätte bis nach der Arbeit warten sollen, um Rosie an einen sicheren, Aaron-freien Ort zu verschleppen. Aber nach dem gestrigen Telefonat mit Mamá… Jep. Hatte sich die Situation verändert. Ich brauchte eine Begleitung… und ich konnte nicht oft genug betonen, dass jeder Mann in Ordnung gewesen wäre. Jeder Mann, der nicht Aaron war, natürlich. Rosie war in dieser Stadt geboren und aufgewachsen. Sie musste irgendwen kennen.
„Stimmt’s, Rosie? Einer deiner Freunde hat doch sicher Zeit.“
Wieder schob sich ihr Kopf in mein Blickfeld. „Vielleicht Marty? Er liebt Hochzeiten.“
Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. „War Marty nicht derjenige, der sich bei der Hochzeit deiner Cousine betrunken hat, um dann der Band das Mikro zu stehlen und ›My Heart Will Go On‹ zu singen, bis dein Bruder ihn von der Bühne gezerrt hat?“
„Genau der.“ Sie verzog das Gesicht.
„Aha. Nein.“ So was konnte ich bei der Hochzeit meiner Schwester nicht gebrauchen. Sie würde ihm das Herz aus der Brust reißen und es als Dessert servieren. „Was ist mit Ryan?“
„Glücklich verlobt.“
Ich seufzte. „Überrascht mich nicht. Ryan ist wirklich ein toller Fang.“
„Ich weiß. Deswegen habe ich so oft versucht, euch zusammenzubringen, aber du…“
Ich räusperte mich laut. „Wir werden nicht darüber sprechen, warum ich solo bin.“ Ich sah eilig zu Aaron. Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. „Was ist mit… Terry?“
„Ist nach Chicago gezogen.“
„Verdammt.“ Ich schloss für einen Moment die Augen und schüttelte den Kopf. Das war sinnlos. „Nun, dann werde ich einen Schauspieler engagieren. Ihn dafür zahlen, dass er meine Verabredung spielt.“
„Das dürfte teuer werden“, meinte Aaron ausdruckslos. „Und Schauspieler sitzen nicht gerade herum und warten darauf, dass alleinstehende Frauen sie anheuern, um sie als ihre Partner auszugeben.“
Ich warf ihm einen genervten Blick zu. „Ich bezahle jemanden von einem Escort-Service.“
Er presste die Lippen zusammen, bis sie kaum noch sichtbar waren… so wie er es immer tat, wenn er wirklich genervt war. „Du würdest lieber einen Callboy mit zur Hochzeit deiner Schwester nehmen als mich?“
„Ich habe von einem Escort gesprochen, Blackford. Por Dios“, murmelte ich und beobachtete, wie seine Augenbrauen sich finster senkten. „Ich habe keinerlei Interesse an dieser Art von Service. Ich brauche nur einen Begleiter. Und genau das tun Escort-Services. Sie vermitteln Personen, die einen zu Events begleiten.“
„Das stimmt so nicht ganz, Catalina“, erklärte er mit tiefer, eisiger Stimme. Er überzog mich förmlich mit frostiger Missachtung.
„Hast du niemals romantische Komödien geschaut?“ Ich beobachtete, wie seine Miene sich noch mehr verfinsterte. „Nicht mal Wedding Date?“
Keine Antwort, nur weiteres eiskaltes Starren.
„Schaust du überhaupt Filme? Oder… arbeitest du nur?“
Es bestand durchaus die Möglichkeit, dass Aaron keinen Fernseher besaß.
Seine Miene veränderte sich nicht.
Gott, ich habe keine Zeit für das hier. Für ihn.
„Weißt du was? Ist nicht wichtig. Und es ist mir egal.“ Ich riss die Hände in die Luft, dann verschränkte ich die Arme vor dem Körper. „Danke für… das hier. Was auch immer das sein sollte. Toller Beitrag. Aber ich brauche dich nicht.“
„Ich glaube, du brauchst mich wohl.“
Ich blinzelte zu ihm auf. „Ich finde dich irritierend.“
„Catalina“, setzte er an, und schon die Weise, wie er meinen Namen aussprach, trieb meine Irritation in neue Höhen. „Du bist verrückt, wenn du dir einbildest, du könntest in so kurzer Zeit jemand anderen finden.“
Und wieder einmal lag Aaron Blackford nicht ganz falsch.
Wahrscheinlich war ich ein wenig verrückt. Und dabei ahnte er noch nicht mal etwas von der Lüge. Meiner Lüge. Nicht, dass er je davon erfahren würde. Aber das änderte nichts an den Tatsachen. Ich brauchte jemanden– irgendwen, aber nicht ihn, nicht Aaron–, der mit mir zu Isabels Hochzeit nach Spanien flog. Weil ich (A) die Schwester der Braut und die Trauzeugin war. (B) Weil mein Ex Daniel der Bruder des Bräutigams und sein Trauzeuge war. Und ich gestern erfahren hatte, dass er glücklich verlobt war. Eine Tatsache, die meine Familie bisher vor mir geheim gehalten hatte. (C) Wenn man die wenigen und ziemlich erfolglosen Dates nicht mitzählte, die ich absolviert hatte, war ich streng genommen seit ungefähr sechs Jahren solo. Seitdem ich Spanien verlassen hatte, um in die USA zu ziehen… was stattgefunden hatte, kurz nachdem mir meine bisher einzige richtige Beziehung ins Gesicht explodiert war. Etwas, was jeder einzelne Gast auf der Hochzeit wusste– weil es in Familien wie meiner keine Geheimnisse gab und noch weniger in Kleinstädten wie der, aus der ich stammte– und alle mich bemitleideten. Und (D) war da noch meine Lüge.
Die Lüge, die ich meiner Mutter und damit dem gesamten Martín-Clan aufgetischt hatte, weil es bei uns so was wie Privatsphäre und das Respektieren von persönlichen Grenzen nicht gab. Zur Hölle, inzwischen stand meine Lüge wahrscheinlich in den Familienanzeigen der örtlichen Zeitung.
Catalina Martín ist endlich nicht mehr solo. Ihre Familie möchte stolz darauf hinweisen, dass sie ihren amerikanischen Boyfriend mit zur Hochzeit bringen wird. Alle dürfen gerne kommen, um das magischste Event des Jahrzehnts bezeugen.
Denn genau das hatte ich getan. Direkt, nachdem meiner Mutter die Neuigkeit über Daniels Verlobung entglitten war und via Telefon mein Ohr erreicht hatte, hatte ich erklärt, ich würde ebenfalls jemanden mitbringen. Nein, nicht einfach jemanden. Ich hatte gesagt– gelogen, fälschlicherweise behauptet–, dass ich meinen Freund mitbringen würde.
Der streng genommen gar nicht existierte. Noch nicht.
Okay, schön, niemals. Weil Aaron recht hatte. Es war eine ziemlich optimistische Hoffnung, in so kurzer Zeit ein Date aufzutreiben. Die Vermutung, dass ich jemanden finden konnte, der bereit war, meinen Freund zu spielen, war wahrscheinlich wirklich verrückt. Aber einzugestehen, dass Aaron meine einzige Wahl war, und sein Angebot anzunehmen? Das wäre vollkommen irre.
„Ich sehe förmlich, wie die Tatsachen endlich einsinken.“ Aarons Worte rissen mich zurück in die Gegenwart, und ich stellte fest, dass seine blauen Augen immer noch auf mich gerichtet waren. „Ich denke, du solltest das allein verarbeiten. Melde dich einfach, wenn du so weit bist.“
Ich schürzte die Lippen. Und als ich erneut spürte, wie meine Wangen zu brennen begannen– denn wie jämmerlich musste ich in seinen Augen wirken, wenn er, Aaron Blackford, der mich von Anfang an nicht gemocht hatte, mich genug bemitleidete, um anzubieten, meine Verabredung zu spielen?–, verschränkte ich die Arme vor der Brust und riss den Blick von seinen eisigen, taxierenden Augen los.
„Oh, und Catalina?“
„Ja?“ Das Wort drang als Hauchen über meine Lippen. Uaah. Jämmerlich.
„Versuch, nicht zu spät zum Zehn-Uhr-Meeting zu kommen. Das ist nicht mehr niedlich.“
Mein Blick schoss zu ihm, und ich musste ein Schnauben zurückhalten.
Trottel.
Und in diesem Moment schwor ich mir hoch und heilig, dass ich eines Tages eine Leiter finden würde, die lang genug war, um darauf nach oben zu klettern und ihm irgendeinen harten Gegenstand mitten ins Gesicht zu schlagen.
Ein Jahr und acht Monate. So lange ertrug ich Aaron Blackford schon. Ich hatte die Tage gezählt, wartete jeden einzelnen ab.
Dann wandte sich Aaron mit einem Nicken ab. Und ich beobachtete, wie er davonwanderte. Offenbar war ich bis auf Weiteres entlassen.
„Okay, das war…“ Rosies Satz verklang im Nichts.
„Unerträglich? Beleidigend? Bizarr?“, bot ich an und schlug mir die Hände vors Gesicht.
„Unerwartet“, hielt sie dagegen. „Und interessant.“
Ich spähte zwischen meinen Fingern hindurch und sah, wie ihre Mundwinkel sich hoben.
„Unsere Freundschaft wurde ausgesetzt, Rosalyn Graham.“
Sie gluckste. „Das meinst du nicht ernst.“
Tat ich tatsächlich nicht; sie würde mich niemals loswerden.
„Also…“ Rosie hakte sich bei mir unter und zog mich den Flur entlang. „Was willst du tun?“
Ich atmete zitternd aus und fühlte mich plötzlich unglaublich erschöpft. „Ich… ich habe keinen blassen Schimmer.“
Doch eines wusste ich sicher: Ich würde Aaron Blackfords Angebot nicht annehmen. Er war nicht meine einzige Option… und sicherlich war er nicht die beste. Zur Hölle, er war mein gar nichts. Besonders nicht meine Verabredung bei der Hochzeit meiner Schwester.